Synthesen entstehen nicht aus besonderer Tiefe oder intellektueller Anstrengung, sondern aus einem schlichten Befund: Kein System – weder Individuum noch Staat – kann dauerhaft im Ungefähren verharren. Informationen, Erfahrungen und Erwartungen treffen aufeinander, erzeugen Spannungen, und das System antwortet, indem es Linien bildet. Beim Einzelnen heißen diese Linien Überzeugung, Haltung oder Identität; im politischen Raum heißen sie Beschluss, Gesetz oder Verfassung. In beiden Fällen handelt es sich um denselben Vorgang: Komplexität wird reduziert, um handhabbar zu werden.
Abgeschlossene Synthesen
Die einfachste Form der Reduktion sind die abgeschlossene Synthesen.
Innenseitig bedeutet sie: Ein Mensch übernimmt eine Deutung – etwa „die Politik ist grundsätzlich korrupt“ oder „am Ende werden immer die Falschen bevorzugt“ – und behält sie bei, unabhängig davon, ob neue Informationen sie stützen oder widersprechen. Die Deutung wird zum Filter; alles, was nicht passt, wird relativiert oder ausgeblendet. Stabilität entsteht durch Ausschluss, nicht durch Prüfung, Korrekturen finden, wenn überhaupt, nur noch unter hohem inneren Widerstand statt. Das ist das Fundament, auf dem -ismen gebaut sind.
Das politische System arbeitet strukturell ähnlich. Eine bestimmte Rentenformel, ein bestimmtes Migrationsregime, eine bestimmte Vorstellung von sozialer Sicherheit wird einmal umgesetzt und anschließend wie eine feste Größe behandelt. Selbst wenn die Rahmenbedingungen sich sichtbar verändern, bleiben die Grundannahmen in Kraft, weil sie institutionell verankert sind und ihre Infragestellung Konflikte provozieren würde, die niemand tragen möchte. Auch hier wird Stabilität durch Verhärtung erzeugt.
Offene Synthesen
Dem gegenüber stehen offene Synthesen. Sie verzichten nicht auf Verdichtung, wohl aber auf Endgültigkeit. Auf der Ebene des Einzelnen heißt das: Eine Position wird gebildet, jedoch als vorläufig markiert. Man sagt nicht: „So ist es“, sondern: „So sehe ich es derzeit.“ Neue Informationen sind nicht Bedrohung, sondern Prüfmaterial; Korrektur ist möglich, ohne dass sie als Identitätsverlust erlebt werden muss.
Übertragen auf das politische System bedeuten offene Synthesen, dass Entscheidungen mit klar benannten Annahmen und definierten Überprüfungspunkten getroffen würden. Reformen würden mit festen Evaluationszeiträumen und Anpassungsmechanismen versehen, nicht als endgültige Lösungen deklariert. Die Bindung wäre verbindlich, aber nicht irreversibel; das System bliebe steuerbar, ohne jede Änderung zur Grundsatzfrage zu überhöhen.
An dieser Stelle wird ein Zusammenhang deutlich – und macht die Angelegenheit komplizierter:
Politische Systeme handeln nicht von selbst, sind aber auch keine neutrale Bühne. Sie werden von Menschen getragen, die in Ausschüssen sitzen, in Ministerien schreiben, in Parlamenten abstimmen – und die ihrerseits in abgeschlossenen oder offenen Synthesen denken. Zugleich formen Apparate diese Menschen durch Fraktionsdisziplin, Karrierepfade, mediale Erwartungshorizonte und die schlichte Tatsache, dass in der Öffentlichkeit vor allem jene Sichtbarkeit erhalten, die Konflikte zuspitzen – nicht jene, die ihre Position im Verlauf erkennbar weiterentwickeln.
In Talkshows, Fraktionssitzungen oder Presseerklärungen zeigt sich das als vertraute Choreografie: Man signalisiert Durchsetzungskraft, Abgrenzung, Standfestigkeit – oft gerade dort, wo inhaltlich eher vage gesprochen wird. Offene Synthesen, die Entwicklungen zulassen und Zwischenstände markieren, lassen sich darin schlechter darstellen und schlechter verkaufen.
Die Frage, ob ein System überwiegend mit abgeschlossenen oder offenen Synthesen arbeitet, ist deshalb weder reine Strukturfrage noch reine Personalfrage. Es handelt sich um eine Rückkopplung: Apparate ziehen bestimmte Verhaltensmuster an, verstärken bestimmte Denkformen und dämpfen andere. Offene Synthesen setzen nicht nur andere Verfahren voraus, sondern auch Verfahren, die Korrektur nicht systematisch unattraktiv machen.
Damit lässt sich der Unterschied beider Formen knapp fassen:
Abgeschlossene Synthesen versuchen, Sicherheit durch Ausschluss von Bewegung zu erzeugen; offene Synthesen erzeugen Handlungsfähigkeit, indem sie Bewegung einplanen.
Für das Individuum bedeutet dies: Wer ausschließlich in abgeschlossenen Synthesen denkt, verschafft sich kurzfristig Klarheit, verliert aber mittel- und langfristig Anpassungsfähigkeit. Innere Widersprüche werden nicht bearbeitet, sondern überdeckt. Die Selbstbeschreibung als „konsequent“ oder „prinzipientreu“ verdeckt dann häufig nur die Weigerung, auf veränderte Lagen zu reagieren.
Für den Staat gilt dasselbe Muster. Ein politisches System, das überwiegend mit abgeschlossenen Synthesen arbeitet, produziert Regelwerke, die mit stets schwerer korrigierbar werden. Reformen geraten unter diesen Bedingungen regelmäßig zur symbolischen Auseinandersetzung; sachliche Anpassung wird zur Beweisfrage politischer Standhaftigkeit. Die Folge ist ein wachsender Abstand zwischen formaler Ordnung und realer Lage.
Der Nutzen offener Synthese liegt darin, diesen Mechanismus zu begrenzen.
Offene Synthesen ermöglichen Verbindlichkeit ohne Versteinerung. Sie etablieren Korrektur als Bestandteil der Ordnung, nicht als Ausnahmezustand. Für den Einzelnen heißt das: Position beziehen, ohne sich gegen jede Revision zu immunisieren. Für das politische System heißt es: Entscheidungen treffen, ohne sie mit dem Anspruch der Unanfechtbarkeit zu versehen – dies erfordert Funktionsträger, die genau diese Form von Vorläufigkeit innerlich bereits leisten können.
In einer Umgebung, die dichter, schneller und widersprüchlicher wird, ist das kein Stilproblem, sondern eine Funktionsfrage. Systeme, die auf abgeschlossenen Synthesen beharren, werden zuverlässig von der Realität überholt, aufgerieben gar, starr, überkomplex und reformunfähig, wie sie sind. Systeme, die offene Synthesen zulassen, behalten wenigstens die Möglichkeit, sich selbst rechtzeitig zu korrigieren.