Die Sozialstaatsfrage – ein systemtheoretischer Schnitt

Der Sozialstaat gerät nicht deshalb unter Druck, weil er zu großzügig oder zu restriktiv wäre, sondern weil er in seiner gegenwärtigen Form drei inkompatible Operationen gleichzeitig auszuführen hat: Absorption von Unsicherheit, Normstabilisierung und -fortwntwicklung sowie Legitimation politischer Entscheidungen.

Diese drei Funktionen folgen unterschiedlichen Codes, produzieren unterschiedliche Erwartungen und erzeugen daher strukturelle Friktionen, auf die er wiederum zu reagieren hat und die sich moralisch aufladen, aber nicht moralisch lösen lassen.

Sozialpolitik operiert wie jedes System autopoietisch: Sie reproduziert ihre eigenen Unterscheidungen. Sie unterscheidet Anspruch/Nicht-Anspruch, Bedürftigkeit/Nicht-Bedürftigkeit, Arbeitsfähigkeit/Nicht-Arbeitsfähigkeit. Diese Unterscheidungen erzeugen Folgekosten, indem sie Erwartungen formen, die das System anschließend selbst stabilisieren muss. Moral verstärkt diese Dynamik nur, indem sie die Unterscheidungen personalisiert.

Überlastung durch Inkompatibilität

Das politische System kommuniziert binär: Regierung/Opposition, Durchsetzung/Nicht-Durchsetzung. Das soziale System kommuniziert über Hilfe/Entzug von Hilfe. Das ökonomische System kommuniziert über Zahlungsfähigkeit/Nicht-Zahlungsfähigkeit. Das mediale System über Skandal/Kein Skandal.

Der Sozialstaat ist die Kreuzungsstelle dieser vier Logiken – und damit notwendigerweise überdeterminiert. Die Folge ist nicht Überforderung einzelner Menschen, sondern Überforderung der Struktur, die die Differenzen dieser Logiken gleichzeitig verarbeiten soll.

Moral als Störgröße

Moral codiert über gut/böse. Diese Codierung eignet sich zur Selbstmotivation kleiner Gruppen, aber nicht zur Regelung komplexer Verteilungssysteme. Wird sie trotzdem eingesetzt, entsteht ein struktureller Kurzschluss:

– Moral erzeugt Erwartungen, die das System nicht erfüllen kann

– Nichterfüllte Erwartungen erzeugen Empörung

– Empörung erzeugt Reformforderungen

– Reformen erzeugen zusätzliche Komplexität

– Zusätzliche Komplexität erzeugt neue Enttäuschung

Damit stabilisiert moralische Kommunikation paradoxerweise die Dysfunktion, die sie kritisiert.

Gerechtigkeit: ein semantischer Platzhalter

„Gerechtigkeit“ fungiert weniger als Ziel, sondern als semantisches Verdichtungsangebot: Ein Wort, das Anschlusskommunikation sichert, ohne einen operationalisierbaren Inhalt zu liefern. Es ist funktional, weil es Orientierung simuliert, aber dysfunktional, weil es Präzision verhindert.

Die Forderung nach Gerechtigkeit erzeugt mehr Kommunikation, aber nicht mehr Lösung.

Beispiel Migration: ein strukturelles Labor

Migration zeigt das Problem exemplarisch:

Das politische System fragt: Welche Entscheidung ist durchsetzbar?

– Das ökonomische fragt: Wer schafft Wert?

– Das soziale fragt: Wer ist bedürftig?

Das rechtliche fragt: Wer ist anspruchsberechtigt?

– Das mediale fragt: Wo ist der Konflikt?

Keine dieser Perspektiven ist falsch. Falsch ist lediglich die Erwartung, sie seien kompatibel oder auf moralischen Grundannahmen zusammenführen.

Offene Synthesen – also Entscheidungsräume, die Widersprüche nicht eliminieren, sondern operational verfügbar halten – wären hier die einzige Struktur, die nicht sofort wieder kollabiert. Sie ermöglichen, mehrere Logiken gleichzeitig zu bedienen, ohne eine zur moralischen Siegerlogik zu erklären.

Die politische Mitte als Ort der Entlastung

Die Mitte scheitert heute weniger an ihren Positionen als an ihrer Erwartung, Konflikte müssten endgültig gelöst werden; Komplexe Systeme liefern jedoch nur vorläufige, situative, revisionstaugliche Lösungen. Hier liegt ihre Stärke, nicht ihre Schwäche.

Die Mitte stabilisiert sich nicht durch Harmonie, sondern durch sequenzielle Konfliktbearbeitung, bei der jede Entscheidung korrigierbar bleibt.

Der Sozialstaat als Erwartungsfilter

In funktionaler Sicht erfüllt der Sozialstaat nur eine Aufgabe: Er transformiert individuelle Unsicherheit in kollektiv akzeptable Formen. Diese Transformation gelingt umso besser, je weniger normativ gesättigt seine Operationen sind.

Ein entmoralisierter Sozialstaat wäre demnach kein härterer, sondern ein präziserer.