Es gehört zu den stabilsten Missverständnissen moderner Demokratien, politische Probleme als Personalprobleme zu verstehen. Man müsse nur „die Richtigen“ wählen, „die Falschen“ austauschen, die Mutlosen durch Mutige ersetzen — und schon würde sich die Bewegungsfähigkeit des Systems erhöhen. Dieses Narrativ ist populär, intuitiv, psychologisch anschlussfähig, jedoch strukturell falsch.
Denn die Funktionsfähigkeit politischer Systeme hängt weniger von einzelnen Akteuren ab als von der spezifischen Architektur der Kommunikation, die bestimmt, was Personen überhaupt entscheiden können. Der Unterschied zwischen Government und Governance ist deshalb nicht akademische Haarspalterei, sondern die präziseste Erklärung dafür, warum moderne Staaten trotz kompetenten Personals strukturell überlastet sind.
Government: Die Illusion der Steuerbarkeit
Government bezeichnet das klassische Regierungsmodell: Akteure treffen Entscheidungen, Behörden setzen sie um, Parlamente kontrollieren. Es ist die Vorstellung, dass politische Steuerung wie ein Hebel funktioniert: Jemand zieht daran – und etwas bewegt sich.
Diese Vorstellung passt zur politischen Folklore („die Politik muss handeln“), aber nicht zur Realität hochkomplexer Gesellschaften. Denn Government ist ein Modell des zentral gedachten Entscheidens, während moderne Gesellschaften längst polyzentral organisiert sind: Wirtschaft, Recht, Wissenschaft, Medien, Verwaltung und digitale Sphären operieren nach eigenen Codes, eigenen Erwartungen, eigenen Rhythmen; sie lassen sich nicht kommandieren, sondern nur irritieren.
Politiker können vollmundig ankündigen, Politik kann beschließen, dass etwas „einfacher“, „schneller“ oder „effizienter“ werden soll – doch das System hört nicht auf Beschlüsse, sondern auf Kommunikationsstrukturen.
Entschlossenheit ersetzt kein Steuerungsmedium.
Governance: Die Realität verteilter Komplexität
Governance bezeichnet nicht Personen, sondern Prozesse: Vernetzung, Rückkopplungen, wechselseitige Abhängigkeiten, schwer steuerbare Erwartungsgefüge.
In Governance-Realität wird jede politische Entscheidung sofort in andere Subsysteme übersetzt:
– in juristische Prüfmechanismen,
– in mediale Erregungszyklen,
– in ökonomische Kalküle,
– in digitale Resonanzen,
– in EU-Kompatibilitäten,
– in föderale Verhandlungsprozesse.
Eine Entscheidung, die auf Regierungsebene klar erscheint, wird auf Governance-Ebene zu einem Verzögerungs- und Verästelungsfeld, in dem sich ursprüngliche Intentionen verlieren.
Was wie Trägheit wirkt, ist in Wahrheit strukturelle Logik: Systeme operieren nach ihren eigenen Programmen, nicht nach den Wünschen der Regierung; deshalb ist es so folgenlos, wenn Politiker „Mut“, „Entschlossenheit“ oder „Klarheit“ versprechen – Begriffe, die Governance-Systeme nicht kennen.
Die deutsche Besonderheit: Ein Government-System, das Governance nicht erkennt
Deutschland weist eine strukturelle Besonderheit auf: Wo andere Staaten längst weiter sind, pflegt sein politisches Selbstverständnis immer noch Government-Rhetorik, obwohl die Realität vollständig governanceförmig geworden ist.
Das zeigt sich besonders deutlich in:
– der föderalen Mehrebenenlogik,
– dem Vorrang des Rechts vor der Politik (Justiziabilität jeder Maßnahme),
– der Dichte an Konsultations-, Prüf- und Abstimmungsvorgängen,
• der Verwaltung als eigenständigem, selbstreferentiellem System,
• der digitalen Sphäre als unkalkulierbarem Beschleunigungsfaktor.
Die Folge: Politische Führung erreicht das System nicht mehr; nicht weil die Führung schwach wäre, sondern weil der Governance-Korridor derart eng ist, dass selbst starke Akteure kaum Bewegung erzeugen können.
In Deutschland scheitern keine Personen – es scheitern Strukturen, die so gebaut sind, dass Personen scheitern müssen.
Konsequenz: Mehr Government erzeugt weniger Steuerung
Interessanterweise reagiert die Politik auf diese strukturelle Überlastung mit einem Reflex: Sie versucht, noch mehr Government zu erzeugen, noch mehr Ansagen, noch mehr Appelle, noch mehr Führungsrhetorik.
Das Ergebnis ist vorhersagbar: Je stärker Regierung versucht, direkt zu steuern, desto deutlicher zeigt Governance ihre Immunität, je entschlossener Government wird, desto zäher wird Governance.
Das ist kein böser Wille, sondern lediglich Systemphysik.
Offene Synthesen: Ein Modus jenseits beider Modelle
Wenn Government zu schwach ist und Governance zu träge, entsteht eine strukturelle Lücke: Ein Raum, in dem weder Kommandos noch Netzwerkprozesse ausreichende Beweglichkeit erzeugen.
Dort beginnt der Modus offener Synthesen:
– Sie akzeptieren die Autonomie der Subsysteme – und arbeiten mit ihr, statt gegen sie
– Sie erzeugen Anschlussmöglichkeiten, statt Steuerungsbefehle.
– Sie schaffen Resonanzräume, in denen Systeme nicht überlastet, sondern entlastet werden.
– Sie ersetzen die Illusion linearer Kausalität durch die Realität rekursiver Irritation.
– Sie ermöglichen, dass Systeme sich selbst bewegen – weil sie erkennen, dass Bewegung möglich ist.
Offene Synthesen sind kein „drittes Modell“, keine Reformidee, keine politische Methode. Sie sind eine Beobachtungsweise, die Government und Governance nicht gegeneinander stellt, sondern als zwei Seiten derselben Grenzfläche sieht und damit Beweglichkeit erzeugt, wo vorher nur Blockade war.
Die falsche Frage – und die richtige
Die öffentliche Debatte wird sich noch lange mit der falschen Frage beschäftigen:„Wer führt besser? Wer setzt sich durch? Wer zeigt Stärke?“
Das ist Government-Romantik; verständlich, aber analytisch wertlos.
Die richtige Frage lautet: Wie muss ein System gebaut sein, damit Führung überhaupt wirksam werden kann?
Und die Antwort beginnt jenseits von Personen, sondern in der Struktur der Kommunikation. Dort, wo Systeme entweder verhärten, so wie dies in Deutschland der Fall ist. Oder sich öffnen. Dazu man muss den Blick gar nicht weit richten, Kanada oder die skandinavischen Staaten wären weit genug.