Alpha-Hähne, Beta-Hähne, Brotkrumen und die Logik sozialer Systeme

Freilaufenden Nachbarhühnern, die sich zu Besuch eingefunden haben, Brotkrumen auszustreuen, wirkt oft analytischer als jedes politische Feuilleton; man muss nur hinschauen, verstehen, dass es sich nicht um Tiere handelt, sondern um Systemrollen – und dass ihre Dynamiken sich in anderen Kontexten fast identisch wiederholen.

Im Hof picken acht oder zehn Hennen ruhig und ohne Konflikt. Sie organisieren sich selbst, sie stören einander nicht, sie folgen einem stillen Konsens: Jede findet genug. Es ist ein stabiler, unaufgeregter Zustand – funktional, jedoch ohne Spektakel.

Dann geschieht etwas, das den Frieden nicht bricht, sondern umcodiert: Drei Beta-Hähne, die längst anwesend sind, beginnen sich aufzuplustern. Sie schlagen mit den Flügeln, rücken näher an die Hennen, erzeugen Impulse von Unruhe.

Sie lösen keine Gefahr; sie repräsentieren keine Ordnung; sie handeln nicht zum Nutzen der Gruppe. Sie markieren sich selbst.

Und das genügt, um das gesamte Muster zu destabilisieren. Die vormals ruhige Hennenschar beginnt, hektischer zu picken, sich auszurichten, auf Bewegungen zu reagieren, die keinerlei funktionale Bedeutung haben. Nicht die Hennen produzieren Konflikt – die Beta-Hähne produzieren Publikum.

Der Obergockel hingegen erscheint meist nur in Begleitung seiner Oberhenne. Er pickt kaum, er prahlt nicht, er regelt nicht; er lauscht. Sein Kopf dreht sich zu jedem Geräusch, wachsam, jedoch unaufdringlich. Die Henne frisst unterdessen ruhig weiter, weil seine Präsenz nicht auf Show beruht, sondern auf legitimer Position.

Und genau hier zeigt sich der systemische Kontrast: Es gibt Alphatiere, wie den nachbarlichen Obergockel, die sich als Stabilisator sehen und durch Ruhe stabilisieren – und es gibt, dies auch um der Vollständigkeit Willen angemerkt, die anderen, jene „weird Alphas“, die Präsenz nicht als Funktion, sondern als Dauerbetrieb verstehen und ihr System unnötig in Alarm halten. Beide Strategien existieren, aber nur eine trägt.

Der Unterschied könnte nicht größer sein:

– Echte Obergockel stabilisiert das System allein durch Anwesenheit

– Weird Obergockel und Beta-Gockel destabilisieren es durch performative Geltungssucht

Systemisch ist das völlig klar: Autorität braucht keine Inszenierung. Machtbehauptung existiert nur als Inszenierung. Und deshalb entsteht soziale Unruhe in vielen Systemen dort, wo Akteure etwas darstellen müssen, das sie faktisch nicht sind: in Parteien, in Redaktionen, in Unternehmen, in sozialen Medien. Es sind selten die echten Obergockel, die Lärm machen, sondern jene, deren Status nicht gesichert ist.

Konflikt entsteht nicht aus Substanz, sondern aus Positionierungsdruck. Frieden scheitert nicht, weil er brüchig wäre, sondern weil er keine Bühne bietet.

Wer das Gebaren von Hühnern begreift, versteht die politische Gegenwart schneller als durch jede Talkshow.