Der Mensch ist nicht Element des Systems – und darin liegt seine Freiheit

Der Vorwurf, die Systemtheorie lasse den Menschen achtlos liegen, beruht fast immer auf einer Kategorieverwechslung. Die Bielefelder Schule braucht den Menschen nicht, aber sie negiert ihn nicht.

Die Bielefelder Schule sagt nicht: „Der Mensch ist unwichtig.“, sondern „der Mensch ist kein Element sozialer Systeme.“; das ist etwas völlig anderes. Soziale Systeme bestehen aus Kommunikation, nicht aus Menschen. Psychische Systeme bestehen aus Bewusstsein, nicht aus Kommunikation.

Das ist keine Abwertung des Menschen, sondern eine analytische Trennung, die überhaupt erst erklärt, warum moderne Gesellschaften so widersprüchlich und spannungsvoll funktionieren.

Gerade weil der Mensch nicht Teil des Systems ist, bleibt er unvollständig integrierbar, nie vollständig steuerbar, nie restlos funktionalisierbar. Das ist letztlich kein Defizit der Systemtheorie sondern ihr Freiheitsmoment.

Wo der Mensch sehr wohl vorkommt: Als Umwelt, Filter und Irritationsquelle

Systemtheorie kennt den Menschen nicht als Element, aber sehr wohl als Bedingung von Kommunikation, konkret:

– Senderfilter

Kommunikation entsteht nicht automatisch. Sie setzt voraus, dass ein psychisches System etwas auswählt, formuliert, adressiert. Das ist keine triviale Leistung: Wahrnehmung, Motiv, Affekt, biografische Prägung und Aufmerksamkeit sind zentrale Parameter. All das liegt nicht im sozialen System, sondern im psychischen.

– Mitteilungsfilter

Nicht jede Information wird zur Mitteilung. Menschen entscheiden, bewusst oder unbewusst, was sie sagen, wie sie es sagen, wem sie es sagen. Hier liegt enorme menschliche Wirkmacht: Ironie, Zurückhaltung, Eskalation, Ambiguität, strategisches Schweigen.

– Verstehensfilter (Adressatenfilter)

Kommunikation existiert erst, wenn sie verstanden oder missverstanden. wird. Auch hier ist der Mensch unersetzlich: Deutung, Anschluss oder Abbruch, Weitererzählen oder Vergessen, emotionale Reaktion. Systeme können Kommunikation fortsetzen, aber Verstehen geschieht psychisch.

„Aber in der Praxis vereinen Menschen doch System und Psyche?“

Natürlich sind täglich Politiker zu erleben, die ihre Rolle emotional verkörpern, CEOs, die Organisation und Ego verschmelzen oder Aktivisten, die Moral, Identität und Systemlogik vermischen; systemtheoretisch jedoch gilt: Dies ist keine Einheit, sondern eine strukturelle Kopplung. Der Mensch ist nicht das politische System,

aber seine psychische Struktur irritiert das System massiv.

Deshalb können Persönlichkeiten Geschichte prägen, und deshalb können Charisma, Angst, Kränkung politische Prozesse kippen. Die Systemtheorie leugnet das nicht; sie erklärt, warum es riskant ist, wenn Rollen und Psyche nicht getrennt bleiben.

Der eigentliche Vorwurf an Niklas Luhmann ist ein normativer

Wenn Kritiker sagen: „Die Systemtheorie lässt den Menschen liegen“, meinen sie oft: „Sie sagt uns nicht, was wir tun sollen.“ Das ist leider richtig. Die Bielefelder Schule ist deskriptiv, nicht normativ; erklärend, nicht tröstend; nüchtern, nicht humanistisch aufgeladen.

Sie bietet keine Ethik, keine Erlösung und keine Anleitung zur Sinnstiftung; dies ist jedoch kein Mangel, sondern eine bewusste Entscheidung: Erst verstehen, dann, wenn überhaupt, bewerten.

Warum es am Ende auf den Menschen ankommt

Die Bielefelder Schule hat den Menschen also nicht vergessen, sie hat ihn nur nicht romantisiert. Sie zeigt, wo er nicht ist (nicht im System), wo er nicht herrscht (nicht über Codes), jedoch auch, wo er unverzichtbar bleibt: Im Verstehen, im Filtern, im Maßhalten, im Nicht-Mitmachen.

In Zeiten digitaler Systeme, algorithmischer Selektion und KI-gestützter Koordination wird etwas sichtbar, das Niklas Luhmann sehr klar gesehen hat: Je stärker Systeme sich verselbständigen, desto kostbarer wird der menschliche Anteil an Kommunikation: Die Entscheidung, nicht zu eskalieren, die Fähigkeit, Ambiguität zu ertragen, bewusste Anschlussfähigkeit, Rollenbewusstsein statt Ego-Identifikation, Resonanz statt Empörung. Synthesen haben offen zu bleiben, um es einfach auszudrücken.

Der Mensch ist nicht System, aber er ist der Ort, an dem Systeme scheitern oder gelingen können. Gerade in einer Welt, die immer mehr koordiniert wird, ist das keine kleine Rolle.