Der Mensch vor dem System

Es ist eine der irritierendsten Erkenntnisse der Systemtheorie: Der Mensch gehört nicht zum sozialen System. Er erscheint darin nicht als Person, nicht als Biografie, nicht als Innenwelt, sondern als Rolle, als Funktionsträger, als Adressat einer Operation, eine Art notwendige Umweltkomponente, die das System zwar braucht,

aber niemals wirklich sieht.

Soziale Systeme bestehen ausschließlich aus Kommunikation, es sind ausschließlich sie, die kommunizieren, und zwar mit sich selbst, und diese Kommunikation gehört niemandem. Sie passiert, weil sie passieren muss, denn ohne Kommunikation kein System. Der Mensch steht daneben und wird doch unablässig durch sie hindurchgereicht.

Das System braucht den Menschen – aber nicht als Menschen

Ein Wähler taucht nicht als Mensch auf, sondern als Stimme, ein Arbeitnehmer erscheint nicht als Person, sondern als Position im Organigramm, ein Patient ist ein Fall, ein Kläger ist ein Verfahren, ein Käufer ist eine Entscheidung. Das System nimmt sich den Menschen, aber nur den Teil, der in seine eigene Grammatik passt, der Rest fällt ab.

Damit soziale Systeme funktionieren, müssen sie etwas leisten, das im Alltag unscheinbar wirkt, aber strukturell entscheidend ist: Sie müssen Unwahrscheinliches verlässlich machen.

Denn eigentlich ist es alles andere als selbstverständlich, dass Menschen einander verstehen, Entscheidungen überhaupt getroffen werden, Rollen stabil bleiben, Kommunikation anschließt statt abbricht; dass all das trotzdem gelingt, ist nur möglich, weil Systeme konsequent Komplexität ausblenden.

Sie reduzieren die Welt auf das, was für sie selbst verarbeitbar ist: Formulare statt Biografien, Rollen statt Personen, Fälle statt Schicksale. Alles, was darüber hinausgeht, Emotion, Identität, Erfahrung, würde das System überfordern. Darum entsteht diese eigentümliche, fast frostige Distanz: Nicht weil das System kalt sein will, sondern weil Wärme strukturell nicht vorgesehen ist.

Ohnmacht entsteht dort, wo Erwartungen kollidieren

Psychische Systeme wollen Sinn, Nähe, Bedeutung. Soziale Systeme wollen Anschlussfähigkeit und Komplexitätsreduktion. Der Mensch erwartet also Antwort, wo das System Anschluss erzeugt; das sind verschiedene Welten.

Darum erlebt der Mensch, sobald er mit Systemen interagiert, Verwaltung, Justiz, Politik, Medien, diese seltsame Mischung aus sachlicher Kälte, formaler Höflichkeit, struktureller Distanz, unerschütterlicher Gleichgültigkeit. Die geschieht nicht aus Bosheit, sondern aus Logik: Das System muss funktionieren, nicht trösten.

Die Gesellschaft wird stabiler, wenn sie diese Differenzen erkennt, und gefährlich, wenn sie sie verwischt. Kunst besteht darin, beides zu verbinden, ohne das eine dem anderen zu opfern. Das bedeutet für Politik, Wirtschaft, Recht und Medien: Systeme dürfen Menschen nicht wie Systemeinheiten behandeln, Menschen sollten Systeme nicht wie moralische Personen missverstehen. Rollen und Erwartungen müssen klar sein; offene Synthesen sind nötig, weil psychische und soziale Systeme verschieden ticken.

Warum das System Menschen ausschließen muss

Wenn man ein System definieren will, das gleich funktioniert, egal welche Menschen darin auftauchen oder ausfallen, dann dürfen Menschen kein Element dieses Systems sein. Denn sonst müsste man jeden einzelnen Unterschied zwischen schlau/dumm, empathisch/unsensibel, jung/alt, reich/arm, gesund/krank usw. als Systemvariable führen. Das würde das System jedoch unendlich machen, also unbrauchbar.

Soziale Systeme sind extrem leistungsfähig, gerade weil sie Menschen aus ihrem Inneren fernhalten; Kommunikation besteht aus Information, Mitteilung, Verstehen. Alles andere, auch Menschen, liegt außerhalb. Wir können nicht in die Kommunikation einsteigen, wir sind nur Irritation. 

Der Mensch ist Teil der Umwelt des Systems und hat dennoch keine Kontrolle. Genau damit entsteht menschliches Unbehagen über „kalte Systeme“, denn Politik meint den Menschen nicht, Recht meint den Menschen nicht, Wirtschaft nicht und Wissenschaft auch nicht. Systeme meinen nur sich selbst, alles von außen kommt nur als Irritation vor, nie als Element.

Der Mensch ist also systemisch prinzipiell ausgeschlossen, aber zugleich unverzichtbare Umwelt; er ist nicht Teil des sozialen Systems, dieses besteht aus Kommunikation, nicht aus Menschen. Das ist der fundamentale Bruch: Menschen handeln nicht im sozialen System, Menschen sprechen nicht im sozialen System, Menschen „kommunizieren“ nicht im System; das soziale System kommuniziert ausschließlich selbst und nutzt Menschen lediglich als Irritation, als Trigger oder Inspiration, wenn man so sagen will.

Der Mensch ist also Umwelt des sozialen Systems, Bedingung seiner Existenz, jedoch nie sein Bestandteil. Das klingt hart, ist aber so.

Die doppelte Realität des Menschen

Systemtheoretisch lebt jeder Mensch in zwei Wirklichkeiten: In der Psychischen Realität seines individuelles Bewusstsein, seiner Gedanken, Gefühle und Sinnhorizonte. Sowie in der Sozialen Realität, gekennzeichnet von Rollen, Erwartungen und Kommunikation. 

Diese beiden Realitäten überlappen sich nie vollständig. Der Mensch erfährt sich selbst stets vollständiger, als das soziale System ihn abbildet. Das erzeugt das tiefe Gefühl von Entfremdung, Bürokratiefrust, Ungerechtigkeit und politischer Ohnmacht. Dies muss so sein, damit Gesellschaft überhaupt funktioniert, denn das System braucht den Menschen, aber nicht als Menschen, sondern als Rolle. Das ist die Funktionslogik moderner Gesellschaft. Das ist übrigens der Punkt, an dem Franz Kafkas Werk ansetzt.