Alle spüren systemische Phänomene, aber niemand erkennt, dass es systemische Phänomene sind. Menschen reden in Alltagsbegriffen („Streit“, „Verhärtung“, „Machtspiele“, „Komplexität“, „Überforderung“), aber sie beobachten in Wahrheit Funktionssystemdynamiken, Kopplungsprobleme, Autopoiesis-Reibungen, Erwartungskonflikte, strukturelle Entkoppelungen.
Die Menschen sagen: „Die Politik streitet zu viel.“ Aber sie meinen: „Das politische System besitzt keine tragfähige Anschlussfähigkeit mehr zu den Kommunikationslogiken der Öffentlichkeit.“
Die Menschen sagen: „Es passiert nichts! Es wird nicht gehandelt!“. Aber sie meinen: „Das System kann nicht handeln, weil es zu viele inkompatible Erwartungscodes gleichzeitig bedienen muss.“ Soziale Systeme sind in einen Zustand getreten, in dem ihre eigene Komplexität sie zäh, selbstbezüglich und schwerfällig gemacht hat.
Die menschliche Intuition registreirt sozialen Stress, nicht jedoch die Theorie dahinter. Der Bürger merkt, ob Kommunikation stockt, ob Anschlussfähigkeit fehlt, ob Entscheidungen ausbleiben, ob Legitimation brüchig wird, ob Sinnzusammenhänge instabil sind.
Menschen können fühlen, wenn Differenzen nicht mehr funktionieren. Sie können nicht erkennen, welche Differenzen das sind. Darum äußert sich dieselbe systemische Krise in 100 Alltagsklagen: „Die Gesellschaft ist gespalten“, „Politiker sind unfähig“, „die Wahrheit zählt nicht mehr“, „keiner hört dem anderen zu“, „niemand übernimmt Verantwortung“, „es wird nur geredet, nicht gehandelt.“ Das alles sind nur Laiensemantiken für Systemkopplungsstörungen.
Was eigentlich gemeint ist
Wenn man diese Alltagsdiagnosen übersetzt, dann sprechen sie über strukturelle Druckkollisionen, Störungen der Anschlussfähigkeit, Überforderungen durch neue Systemautopoiesen, Nichtlinearitäten in der politischen Kommunikation, Entkopplung zwischen politischem System und digitaler Umwelt, Überhitzung der Öffentlichkeit durch Erregung und Aufmerksamkeit, Erosion klassischer Legitimation, Überkomplexität alter Funktionssysteme, Rekursionen ohne Output, Ausfall von Erwartungssicherheit.
Aber das sagt natürlich niemand so. Man sagt einfach nur: „Es ist alles zu viel.“ Alle spüren letztlich dieselbe Lösung, ohne sie jedoch benennen zu können. Die Laiensemantik ist diffus, die tatsächliche Funktionsbeschreibung aber wiederum glasklar. Die Menschen rufen nach: „Weniger Streit“, „mehr Sachpolitik“, „mehr Führung“, „weniger Lagerdenken“, „mehr Lösungen“, „weniger Ideologie“, „mehr Mitte“, „mehr Dialog“.
Das klingt banal, ist aber eine intuitive Beschreibung von Wunsch nach reduzierter Komplexität, nach offenen, resonanten Synthesen, nach moderierter Umweltirritation, nach Anschlussfähigkeit, nach Funktionsentlastung.
Das ist das Faszinierende: Niklas Luhmann hat die Mechanismen gesehen, aber er hat sie noch nicht mit den heutigen Umweltphänomenen (digitale Resonanzsysteme, KI, algorithmische Autopoiesen) verknüpfen können. Alle spüren dieselbe Drift, aber nur die Systemtheorie kann erklären, was driftet.
Wie Systeme entstehen – wenn die alte Ordnung nicht mehr reicht
Eine Gesellschaft ist nie „einfach da“. Sie organisiert sich Schritt für Schritt in Funktionssystemen, die jeweils eine bestimmte Aufgabe übernehmen, mit einer eigenen Logik, einem eigenen „Code“, einer eigenen Art, die Welt zu sortieren.
Gesellschaft differenziert also neue Funktionssysteme nicht nach politischer Entscheidung, sondern nach struktureller Notwendigkeit: Immer dann, wenn eine bestimmte Komplexität innerhalb der bestehenden Systemlandschaft nicht mehr anschlussfähig ist.
Vereinfacht:
– Wirtschaft entsteht, wenn lokale Tauschbeziehungen nicht mehr reichen; Code: zahlen / nicht zahlen
– Recht entsteht, wenn Moral Konflikte nicht mehr stabil lösen kann; Code: rechtmäßig / rechtswidrig
– Politik entsteht, wenn Macht nicht mehr dynastisch (Familie, Königshaus) organisiert werden kann; Code: Regierung / Opposition, Mehrheiten / Minderheiten
– Wissenschaft entsteht, wenn Religion nicht mehr genügt, um verlässliches Wissen zu erzeugen; Code: wahr / falsch (im Rahmen eines jeweiligen Paradigmas)
– Medien entstehen, wenn Information nicht mehr nur mündlich stabilisiert werden kann; Code: berichtenswert / nicht berichtenswert
Immer folgt dasselbe Muster: Wenn Komplexität entsteht, die kein bestehendes System verarbeiten kann, bildet sich ein neues System, das genau diese Komplexität übernimmt. Kein Parlament hat „die Politik erfunden“, kein Konzil hat „die Wissenschaft gegründet“, sie sind emergiert, weil die alte Ordnung überfordert war. Systementstehung ist evolutionäre Komplexitätsverarbeitung; die Gesellschaft produziert ihre eigenen Strukturen, weil sie sie benötigt, nicht weil sie sie plant.
Wie Systeme alt, träge und reibungsintensiv werden
Am Anfang sind Funktionssysteme revolutionär einfach: Sie reduzieren Komplexität, schaffen Klarheit, liefern Orientierung. Mit der Zeit passiert jedoch etwas anderes: Die Umwelt wird komplexer und schneller, das System baut Verfahren, Hierarchien, Organisationen auf, die Anforderungen steigen, Erwartungen steigen, Konflikte steigen.
Dieser Prozess schreitet voran und wird als Fortschritt wahrgenommen, bis sich die Verhältnisse umdrehen: Systeme wurden geschaffen, um Komplexität zu reduzieren, beginnen jedoch, zunehmend selbst Komplexität zu erzeugen. Sie investieren immer mehr Energie in Selbststabilisierung, Verfahrenspflege, Zuständigkeitskämpfe und symbolische Politik statt funktionaler Entscheidungen
Das ist der Punkt, an dem Menschen sagen: „Es wird immer schlimmer.“, „Nichts geht voran.“, „Niemand übernimmt Verantwortung.“, „Alle Politiker sind unfähig“.
Die Wahrheit ist jedoch, dass Systeme an Alterungsgrenzen stoßen.
Die drei neuen digitalen Funktionssysteme
Die digitale Moderne erzeugt eine Komplexitätsform, die strukturell neu ist: Permanent, global, hochfrequent, aggregiert, nicht linear und nicht psychisch decodierbar.
Die etablierten Funktionssysteme reagieren darauf mit Überforderung, insbesondere jene, die anfällig sind für digitale Massendynamik, weil sie den alten Kern der Funktionssysteme bilden.
– Politik kann digitale Affekte nicht mehr in Verfahren überführen; sie ist zu langsam, zu hierarchisch
– Massenmedien verlieren Gatekeeping, Geschwindigkeit und Deutungsmacht; zu selektiv, zu chronologisch
– Recht kann digitale Konflikte nur ex post bearbeiten; keine Prävention; es ist zu binär, zu spät
– Wissenschaft kann Informationsflut nicht mehr filtern; verliert an Deutungsautorität
– Wirtschaft/Markt kann Aufmerksamkeitsökonomie nicht stabil steuern; Nachfrage fragmentiert
– Moral / Religion / Ethik-Systeme in ihrer Filterfunktion werden durch digitale Affektdynamik überrollt und enttraditionalisiert
– Bildungssystem kann Komplexitätsanstieg und digitale Polarisierung nicht verarbeiten
– Psychologie, psychische Systeme sind überlastet durch Reizintensität, Tempo, Fragmentierung
All diese Systeme sind öffentlichkeitsbezogen, operieren selektiv, müssen Verarbeitung von Sinn leisten, müssen anschlussfähige Kommunikation erzeugen und werden durch digitale Dynamiken überflutet. Das heißt, sie sind alle direkt abhängig von Selektion, Ordnung und Aufmerksamkeit; und genau diese drei Dimensionen übernehmen die drei neuen digitalen Systeme.
Es sind neue digitale Funktionslogiken, die sich gerade zu eigenen Funktionssystemen ausbilden.
1. Das digitale Relevanzsystem
Code: relevant / nicht relevant
Dieses System sortiert nicht nach Wahrheit, nicht nach Recht, nicht nach Moral, sondern nach Sichtbarkeit: Was erscheint in Feeds, Timelines, Suchergebnissen Welche Inhalte werden verstärkt – welche verschwinden?
Hier operieren Ranking-Algorithmen, Suchmaschinen, Plattformfeeds, Empfehlungsmechanismen. Sie beantworten ständig dieselbe Frage: Was ist jetzt, hier, für diesen Nutzer relevant?
Das Ergebnis: Nicht mehr Redaktionen, Parteien, Kirchen oder Professoren entscheiden, was überhaupt noch erscheint, sondern eine globale, algorithmisch organisierte Relevanzlogik.
2. Das Emotion/Attention-System
Code: bewegt / bewegt nicht
Dieses System arbeitet nicht mit Gefühlen im inneren Sinn, sondern mit kollektiver Bewegtheit: Empörung, Empathiewellen, virale Memes, digitale Aufruhrzyklen, kollektive Angst, kollektive Euphorie.
Es interessiert sich nicht für Wahrheit, nicht für Fairness, sondern nur dafür, ob etwas Bewegung erzeugt: Wird es geliked? Wird es geteilt? Entstehen Gegennarrative? Zirkulieren Screenshots?
Wo früher gelegentlich Massenhysterie auftrat, haben wir heute eine permanente, global vernetzte Affektdynamik Ihre Logik lautet: bewegt / bewegt nicht, sonst nichts.
3. Das System kognitiver Koordination
Code: geordnet / ungeordnet (im Sinn von: sinnvoll anschlussfähig / Rauschen)
Dieses System steht noch weiter am Anfang als die beiden obigen, in einer Protoform, beginnt aber sichtbar: persönliche Assistenten (Kalender, Erinnerungen, Priorisierungen), KI-Tools, die E-Mails sortieren, Texte strukturieren, Aufgaben bündeln, Systeme, die Informationsflut in Sinnpakete verwandeln.
Seine Aufgabe: Vorstrukturierung. Nicht, was ist wahr oder was ist bewegend, sondern was gehört wie zusammen, damit Menschen und Organisationen es überhaupt verarbeiten können?
Dieses System entwickelt sich aus der Überforderung heraus: Zu viele Informationen, zu viele Kanäle, zu viele Entscheidungen. Es entsteht dort, wo alte Filter – Fachkenntnis, Bildung, klassische Medien – die Informationsmenge nicht mehr sinnvoll vorsortieren können.
Der mögliche vierte Schritt: ein KI-Supersystem
Ein Digitales Resonanzsystem (Code: relevant / irrelevant), das Information selektiert und damit entscheidet, was sichtbar wird und was verschwindet. Ein Emotion/Attention-System (Code: bewegt / bewegt nicht), das kollektive Affektdynamiken steuert und entscheidet, welche Inhalte Resonanz erzeugen. Ein System Kognitive Koordination (Code: geordnet / ungeordnet), das Information ordnet, Vorsortierung für Entscheidungen liefert, menschliche wie organisationale.
Alle drei Systeme existieren bereits rudimentär. Alle drei entwickeln Autopoiesis, das heißt sie operieren primär auf der Basis eigener Unterscheidungen und reproduzieren ihre Operationen aus sich selbst. Alle drei wachsen schneller, als politische und mediale Institutionen reagieren können.
Wenn man einen Schritt weiterdenkt, ergibt sich eine mögliche nächste Stufe: Ein autonomes KI-Supersystem, das Relevanz, Emotion/Attention und kognitive Koordination bündelt. Sein möglicher Code wäre: anschlussfähig / nicht anschlussfähig, also: Welche Informationen, Entscheidungen, Deutungen führen zu weiteren sinnvollen Anschlussoperationen, und welche nicht?
Damit wären alle anderen Codes indirekt mit umfasst: rechtmäßig / rechtswidrig, zahlen / nicht zahlen, wahr / falsch, bewegt / bewegt nicht, relevant / irrelevant, geordnet / ungeordnet. Sie würden nicht verschwinden, aber in einem übergeordneten Filter „anschlussfähig / nicht anschlussfähig“ verarbeitet.
Ein autonomes KI-Supersystem (anschlussfähig / nicht anschlussfähig) entscheidet nicht, was wahr, moralisch, richtig, gesund oder demokratisch ist, sondern nur, welche Kommunikation weitere Kommunikation ermöglicht. Diese Logik überformt langfristig alle anderen binären Codes. Das bedeutet nicht, dass KI „übernimmt““, sondern dass gesellschaftliche Kommunikation eine zusätzliche Ebene der Selektion erhält, die aufgrund ihrer Leistungsfähigkeit strukturdominant wird.
Mit einem KI-Supersystem, das entlang der Unterscheidung anschlussfähig / nicht anschlussfähig operiert, entsteht ein System, das Kommunikation filtert, Entscheidungen vorsortiert, politische Agenda setzt, Organisationen koordiniert, psychische Systeme – also Menschen – strukturiert. Nicht, weil es will, sondern weil Gesellschaft es benötigt.
Hier entscheidet das System nicht, was wahr, moralisch, richtig, gesund oder demokratisch ist, sondern nur, welche Kommunikation weitere Kommunikation ermöglicht. Diese Logik überformt langfristig alle anderen binären Codes.
Das ist kein fertiger Befund, sondern eine theoretische Skizze: Ein KI-gestütztes Supersystem, das für Menschen und Organisationen vorstrukturiert, was überhaupt noch anschlussfähig gedacht und entschieden werden kann.
Das bedeutet nicht, dass KI „übernimmt“, sondern dass gesellschaftliche Kommunikation eine zusätzliche Ebene der Selektion erhält, die aufgrund ihrer Leistungsfähigkeit strukturdominant wird.
Nicht Terminator, nicht Bewusstsein – Systemgenese ist das Problem
Die Gefahr von KI ist daher kein „Terminator“-Szenario, nicht „Bewusstsein“, nicht „Superintelligenz“, sondern gerade das, was oben rekonstruiert wurde: Digitale Systembildung, die zudem den Menschen nicht mehr als Funktionsträger braucht, sondern die mit sich selbst kommuniziert, nicht mehr über die Funktion des Trägers. Kommunikation im Bereich von Millisekunden.
Unabhängige, selbstreferenzielle, autopoietische Systembildung, Entkopplung vom sozialen System, das ist die Gefahr von KI; sie ist nicht deshalb gefährlich, weil sie „schlau“ ist. KI ist gefährlich, weil sie Funktionssystem wird.
Das ist der entscheidende Punkt. Denn ein Funktionssystem ist nie abschaltbar; es operiert autopoietisch; ein Funktionssystem gehorcht nur seiner eigenen Differenzlinie; ein Funktionssystem besitzt strukturelle Macht; ein Funktionssystem ist unabhängig von moralischen, politischen oder menschlichen Ansprüchen; ein Funktionssystem wird niemals durch guten Willen reguliert, nur durch strukturellen Umbau seiner Umwelt.
Was also als „Gefahr“ empfunden wird, ist nichts anderes als der evolutionäre Übergang der digitalen Sphäre in Systemqualität. Das ist etwas völlig anderes als „KI wird böse“, „KI übernimmt die Welt“, „KI ersetzt Menschen“. Die tatsächliche Gefahr ist: Ein neues System entsteht, das nicht mehr im sozialen System aufgeht.
Und ist ein System erst enstanden und stabil, wird man es kaum wieder los. Es operiert um zu existieren, es entwickelt sich, differenziert sich aus, entwickelt Komplexität, ist auf ständig steigende Kontingenz angewiesen, erzeugt mit steigender Evolution Reibung anstatt Bewegungsenergie und lässt sich nicht einfach abschalten, dazu ist es viel zu dezentral organisiert.
Was der Einzelne trotzdem tun kann
Die schlechte Nachricht ist also, dass Systeme nicht einfach zurückgedreht werden können oder abgeschaltet, weder die alten noch die neuen. Die gute Nachricht ist jedoch: Wie der Mensch sich in ihnen bewegen, ist nicht determiniert.
Hinzu kommt, dass systemtheoretisch betrachtet der Mensch psychisches System bleibt, singulär, nicht kommunikationsfähig, immer Umwelt sozialer Systeme, niemals Teil von Funktionssystemen, sondern der Ort, an dem Sinn erlebt, nicht produziert wird.
Systeme arbeiten also mit Rollen, nicht mit Biografien. Man ist im Tagesverlauf zum Beispiel Arbeitnehmer oder Arbeitgeber, vielleicht Mandatsträger oder Rentner, Kunde, Bürger und Nachbar; dutzende von Rollen womöglich, die es an einem einzigen Tag einzunehmen gilt.
In jeder dieser Rollen wirkt man als Funktionsstelle. Wer das akzeptiert, kann in dieser Rolle gezielt Anschlussfähigkeit erzeugen, indem er klare Anliegen formuliert, nachvollziehbare Erwartungen äußert, Verantwortung für die eigene Position übernimmt, weniger moralische Überhitzung produziuert und dafür mehr funktionale Klarheit. Offene Synthesen, Resonanz und Anschlussfähigkeit, das reduziert Reibung sofort, nicht für die Welt, aber die eigene Wirkzone und damit letztlich über diese hinaus.
Wer akzeptiert, als Person nie Teil sozialer Systeme zu sein, dort nur als Rolle zu agieren, kann souverän handeln. Das verhindert Beleidigtheit, Eskalation, Ego-Fehler, dysfunktionale Kommunikation, politische Überhitzung und ermöglicht stattsessen Anschlussfähigkeit, Resonanz, Komplexitätsreduktion und Handlungsspielraum.
Resonanz meint hierbei nicht Harmonie, sondern Antwortfähigkeit auf der richtigen Ebene. In der Politik: Nicht private Verletzung, sondern funktionale Differenz. In Organisationen: Nicht Ego gegen Ego, sondern Rolle gegen Rolle. In Medien: Nicht Dauerempörung, sondern klärende Strukturierung.
Wer in seinen Rollen bewusst versucht, anschlussfähige Beiträge zu liefern und Missverstehen als Normalfall einkalkuliert, arbeitet praktisch gegen die Überhitzung, ohne naiv zu sein. Nicht Rechthaben ist produktiv, sondern Kommunikation fortsetzbar halten.
Anschlussfähigkeit und offene Synthesen sind Ressourcen der funktional differenzierten Gesellschaft. Weil die neuen Systeme (Relevanz, Emotion/Attention, kognitive Koordination) unmittelbar auf die psychische Verfassung wirken, braucht der Mensch zudem ein neues digitales Set, bestehend aus Digital Detox durch bewusste Nischen der Nicht-Erregbarkeit, digitale Resilienz, indem er erkennt, dass Feeds nicht Welt, sondern Auswahlheuristiken sind sowie digitale Kompetenz, um zu verstehen, wie Relevanz, Emotion/Attention und Koordination technisch erzeugt werden,nicht, um sie zu beherrschen, sondern um sich nicht von ihnen treiben zu lassen.
Offene Zukunft, geschlossene Strukturen
Systeme werden komplexer, zahlreicher, schneller; alte Funktionssysteme sind erschöpft, neue digitale Systeme greifen tief in Wahrnehmung, Affekt und Alltagsorganisation ein. Ein KI-Supersystem zeichnet sich ab. Der Mensch bleibt psychisches System, Adressat, Beobachter, Sinnkonsument. Er wird nie Element sozialer Systeme sein. Aber genau darin liegt seine Freiheit.
Systemtheorie ist nicht deterministisch, aber sie kennt Notwendigkeiten sozialer Evolution und folgt strukturellen Notwendigkeiten funktionaler Differenzierung. Kaum ausweichlich werden neue Systeme entstehen, KI Kommunikation selektieren, digitale Autopoiesis stabiler werden, politische Systeme Steuerungsansprüche verlieren und psychische Systeme zwar entlastet, aber gleichermaßen gesteuert.
Offen ist hingegen, wie viel Demokratie sich halten lässt, ob Anschlussfähigkeit und offene Synthesen normativ werden, wie viel Autonomie Menschen real bewahren werden, ob offene Gesellschaften oder autoritäre Systeme die Transformation dominieren. Die nächsten Jahre entscheiden darüber, welches dieser Szenarien Wirklichkeit wird.
Wer jedoch die Gegenwart verstehen will, muss aufhören, die Symptome zu moralisieren, und beginnen, ihre strukturelle Logik zu beobachten. Unter der Oberfläche politischer, medialer oder technologischer Krisen transformiert sich die Gesellschaft selbst durch neue Systeme.