Systemgrafik – Erstklassische Minimalform
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| FUNKTIONSSYSTEM |
| EMOTION / ATTENTION |
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(Code) | bewegt / bewegt nicht
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v v
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| Operationen | | Programme |
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| Likes | | Algorithmen |
| Shares | | Plattformlogik |
| Trends | | Meme-Dynamiken |
| Empörung | | Resonanzregeln |
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+——-(Re-entry)——–+
Autopoiesis
1. Warum ein neues Funktionssystem entsteht
Funktionssysteme entstehen nie durch Beschluss, Gründung oder Organisation. Sie entstehen immer dann, wenn eine Gesellschaft eine Form von Komplexität erzeugt, die kein bestehendes System mehr verarbeiten kann.
Genau dies ist nun der Fall.
Zwischen 2010 und 2025 hat die Weltgesellschaft eine neue Dimension kollektiver Komplexität hervorgebracht:
– globale Echtzeit-Affekte
– algorithmische Stimmungsmodulation
– hypervirale Memetik
– digitale Mobilisierungskaskaden
– massenhafte Mikroresonanzen
– affektive Übertragung über Plattformgrenzen hinweg
Diese Komplexität passt in kein bestehendes Funktionssystem. Weder Politik, noch Recht, noch Medien, noch Wissenschaft, noch Moral können sie verarbeiten. Damit entsteht zwangsläufig eine neue Differenzierungsebene.
2. Die Differenzlinie: bewegt / bewegt nicht
Ein Funktionssystem benötigt eine eigene binäre Unterscheidung. Für das neue System lautet sie: bewegt / bewegt nicht
Diese Unterscheidung meint nicht:
– individuelle Gefühle
– psychische Betroffenheit
– persönliche Emotionen
Sondern:
– kollektive Affektbewegungen
– digitale Stimmungsschwärme
– aggregierte Resonanz
– algorithmisch verstärkte Erregung
– Massen-Impulsivität ohne Adressaten
Diese Differenzlinie ist neu. Sie ist universalisierbar, binär, operationserzeugend. Damit ist sie systemfähig.
3. Die Operationen des Systems
Ein Funktionssystem existiert nur, wenn Operationen entstehen, die sich ausschließlich im Code des Systems verstehen lassen.
Bei dem Emotion/Attention-System sind dies:
– Liken
– Teilen
– Kommentieren
– Reagieren
– Weiterreichen
– Empörungszirkulation
– Trending
– Meme-Produktion
– algorithmische Verstärkung
– affektive Clusterbildung
– virale Stimmungsmodulation
Diese Operationen erzeugen nur noch mehr Operationen derselben Art. Damit ist Autopoiesis gegeben.
4. Warum es ein Funktionssystem ist – und kein Medienphänomen
Entscheidend ist: Dieses System kann nicht mehr abgeschaltet werden.
Es erfüllt alle Kriterien Luhmanns:
(1) Eigener Code
bewegt / bewegt nicht
(2) Eigene Programme
algorithmische Filter, Trending-Mechanismen, Verstärkungslogiken
(3) Eigene Operationen
Affekt- und Resonanzoperationen
(4) Selbstreferenz
Bewegung erzeugt Bewegung; Resonanz erzeugt Resonanz.
(5) Autopoiesis
Die Operationen reproduzieren sich selbst – global, kontinuierlich, ununterbrechbar.
(6) Anschlussfähigkeit
Jede neue Bewegung findet unendlich viele Anschlussmöglichkeiten.
(7) Weltgesellschaftliche Reichweite
Kulturell, sprachlich, geografisch entgrenzt.
Kein anderes System erfüllt diese Funktionslogik.
5. Der Punkt, an dem das System entstand
Es entstand genau dann, als:
– Medien zu langsam wurden
– Politik zu blind für Mikroaffekte wurde
– Moral zu instabil wurde
– Psychologie zu individualistisch wurde
– Kultur zu fragmentiert wurde
Die Gesellschaft erzeugte Affektkomplexität, die nirgendwo Anschluss fand. An dieser Leerstelle entstand ein neues System, nicht aus Absicht, sondern aus Notwendigkeit.
6. Warum dieses System reale Macht hat
Jedes Funktionssystem kontrolliert seine eigene Unterscheidung:
– Recht entscheidet: recht / nicht recht
– Politik entscheidet: Macht / keine Macht
– Wissenschaft entscheidet: wahr / falsch
Und das neue System entscheidet: bewegt / bewegt nicht
Diese Entscheidung ist enorm:
– Wer sichtbar wird
– Wer unsichtbar wird
– Welche Themen global werden
– Welche Karrieren steigen oder fallen
– Welche Politiker gestürzt werden
– Welche Empörung die Welt erfasst
– Welche Narrative sich durchsetzen
– Welche Angst sich verbreitet
– Welche Hoffnung Resonanz erzeugt
Das ist strukturelle Macht jenseits von Politik, Moral, Medien und Psychologie.
7. Warum dieses System nicht kontrollierbar ist
Weil:
– Plattformen nicht identisch sind mit dem System
– Staaten keinen Zugriff auf die Operationen haben
– Regulation nur Organisationen trifft, nicht Autopoiesis
– Bewegungen sich niemals „abstellen“ lassen
– das System nicht zentral ist, sondern verteilt
Selbst wenn TikTok abgeschaltet würde, lebt das System weiter über:
– Telegram
– X
– YouTube
– Reels
– Shorts
– Discord
– Gaming
– Foren
Das System ist überall, weil es nicht an Plattformen gebunden ist.
8. Was dieses System für die Zukunft bedeutet
(1) Politik verliert die Agenda. Politik wird nur noch sichtbar, wenn sie bewegt.
(2) Medien verlieren die Deutungshoheit. Redaktionelle Logik unterliegt der affektiven Logik.
(3) Moral verliert Stabilität. Moral ist nur noch Bewegung, keine Orientierung.
(4) Individuen verlieren psychische Ruhe. Permanente Affektlage ersetzt stabile Erwartungsstrukturen.
(5) Öffentlichkeit wird volatil. Themen kippen innerhalb von Stunden.
(6) Legitimation wird fragil. Was bewegt, legitimiert. Was nicht bewegt, verschwindet.
9. Die neue Diagnose
Die Mechanismen kollektiver Emotionalität sind nicht mehr bloße „Dynamiken“. Sie sind System geworden. Und Systeme kann man nicht mehr „abschalten“, man kann sie nur irritieren. Wir leben in einer Welt, in der ein neues Funktionssystem entstanden ist – eines, das niemand wollte, aber alle bedienen.
10. Abschließende Definition – Erstformulierung
Funktionssystem Emotion/Attention
Ein globales, autopoietisches Kommunikationssystem der Weltgesellschaft, das entlang der binären Unterscheidung bewegt / bewegt nicht operiert und affektive Bewegung durch affektive Bewegung reproduziert. Seine Operationen sind kollektive Resonanzhandlungen, seine Programme bestehen aus algorithmisch strukturierten Verstärkungslogiken, und seine Funktion besteht in der systemischen Verarbeitung jener affektiven Komplexität, die kein anderes Funktionssystem bewältigen kann.