Gerechtigkeit ist weniger moralische Norm als vielmehr Beobachtungsform zweiter Ordnung; sie beschreibt den Moment, in dem eine Gesellschaft feststellt, dass ihre eigenen Erwartungsstrukturen schneller oszillieren als die politischen Entscheidungsverfahren, die sie tragen sollen. „Ungerechtigkeit“ ist dann nicht primär Ausdruck verletzter Ansprüche, sondern Signatur einer Desynchronisation zwischen einem überbeschleunigten sozialen Umfeld und einem politisch-administrativen System, das seine Reaktionsgeschwindigkeit nicht mehr anpassen kann.
Die Umwelt erhöht Takt und Dichte ihrer Irritationen, während das System unverändert sequentiell entscheidet. So entstehen Erwartungsüberhänge, die das System selbst nicht mehr absorbieren kann. In dieser Lage fungiert Gerechtigkeit als Ausfallanzeige: Sie markiert jene Stellen, an denen Entscheidungen nicht mehr als legitim, sondern als zu langsam, zu rigide oder zu zufällig wahrgenommen werden.
Eine mögliche Lösung liegt in dem, was man technisch gesprochen als offene Synthese beschreiben kann. Damit ist keine Vermittlung, kein Kompromiss und erst recht keine moralische Mitte gemeint, sondern eine Entscheidungsform, die ihren eigenen Geltungsanspruch nicht verhärtet. Offene Synthesen erzeugen Festlegungen, die temporär gültig sind, aber ihre Revisionsfähigkeit nicht verlieren.
Sie erhöhen die Adaptivität, ohne in Beliebigkeit abzugleiten, und sie reduzieren Reibung zwischen Erwartung und Entscheidung, indem sie Optionen offenhalten, ohne Entscheidungen zu vermeiden und damit Bewegung, ohne die kein System auskommen kann, erst oder wieder ermöglicht.
Abgeschlossene Synthesen dagegen hypostasieren ihren Inhalt, stabilisieren Identitäten, blockieren Revisionen und produzieren genau jene Reibung, die gesellschaftlich als „Ungerechtigkeit“ wahrgenommen wird. Ob ein politisches System gerechter wirkt oder nicht, hängt daher weniger von der Moral seiner Akteure ab als von der Form seiner Synthesen.
Besonders anschaulich tritt dies im Politikfeld Migration zutage. Hier interagieren zwei Systeme mit radikal verschiedenen Taktungen: Migration operiert global, horizontal, spontan, digital beschleunigt; politische Verfahren operieren national, vertikal, sequentiell und sind in starre Kategorien (Asyl, Arbeitsmigration, Familiennachzug) gepresst, die längst nicht mehr den realen Mobilitätsmustern entsprechen.
Die Folge ist keine moralische Spannung, sondern eine operative Entkopplung: Kommunen benötigen Planbarkeit und erhalten sie nicht; Migranten benötigen verlässliche Verfahren und erhalten sie nicht; Bürger erwarten Steuerung und erleben administrative Verzögerung; Parteien erzeugen Identitäten statt Lösungen, weil das System sie genau dazu zwingt. Ungerechtigkeit entsteht hier nicht als moralischer Fehler, sondern als Funktion fehlender Synchronisation.
Die offene Synthese in diesem Feld wäre nicht „mehr Härte“ oder „mehr Humanität“, sondern eine strukturelle Entscheidung: dynamische Kategorien, die reale Fluktuationen abbilden; iterative Entscheidungsschleifen statt linearer Verfahren; Revisionsfähigkeit ohne Gesichtsverlust; flexible Ressourcenzuteilung ohne Fallzahlenfixierung; normative Selbstbeschreibungen, die erst nach funktionaler Stabilisierung formuliert werden. Gerechtigkeit wäre hier nicht das Ziel, sondern die Nebenfolge funktionierender Koordination.
In diesem Licht erscheint Gerechtigkeit nicht als moralische Frage, sondern als Systemfrage: Gesellschaften werden nicht gerechter, indem sie moralischer werden, sondern indem sie ihre eigenen Verzögerungen reduzieren. Solange politische Systeme versuchen, strukturelle Probleme mit begrifflichen Aufladungen zu bearbeiten – Gerechtigkeit, Solidarität, Zumutbarkeit – reproduzieren sie genau jenes systematische Gift namens Reibung, die sie zu lösen versuchen.
Die entscheidende Frage lautet daher nicht, welche Gerechtigkeit gewollt wird, sondern welche Form politischer Entscheidung in der Lage ist, die Geschwindigkeit gesellschaftlicher Erwartungen überhaupt noch zu verarbeiten. Gerechtigkeit ist kein Ziel, sondern ein Stabilitätsindikator.