Diagnose und System

Deutschland ist ein System, das sich selbst entworfen hat, als die Welt noch langsamer war; damals genügte es, dass Entscheidungen sich Zeit nahmen, weil auch die Wirklichkeit sich Zeit nahm. Institutionen konnten wachsen, sich verästeln, Routinen ausbilden – und die Komplexität der Welt folgte diesem Tempo.

Dieses Verhältnis ist heute zerstört; Das System ist alt geworden, die Welt ist jung geworden, und beides kollidiert täglich.

Ein System, das sich selbst kompliziert

Dass das System kompliziert ist, ist kein Fehler – es ist seine Natur. Deutschland besteht aus Subsystemen, die alle gut gemeint sind, aber jeweils ihrer eigenen Logik folgen: Ministerien verwalten Kompromisse, Parteien verwalten Identitäten, Medien verwalten Aufmerksamkeit, Social Media verwaltet Erregung, Verwaltung verwaltet Regeln, Bürger verwalten Erwartungen.

Jedes dieser Subsysteme optimiert sich selbst, nicht das Ganze. Sie laufen nebeneinander her, ineinander verschachtelt, gegeneinander verkantet; sie können sich gegenseitig nicht abschalten, nicht beschleunigen, nicht vereinfachen. Und so entsteht ein System, das niemand geplant hat.

Nicht bösartig, nicht korrupt, nicht unfähig sondern schlicht überverschränkt.

Das Altern eines Systems

Systeme altern anders als Menschen. Sie altern nicht durch Abnutzung, sondern durch Schichtenbildung.

Jede Gesetzesreform legt eine Lage über die vorherige, jedes neue Gremium überdeckt ein älteres, jede gesellschaftliche Spannung fügt neue Zuständigkeitsbereiche hinzu, jede politische Krise hinterlässt ein neues Notfallinstrument.

Und weil nichts wirklich entfernt wird, sondern alles bleibt, wächst das System wie ein Baumstamm: Ring für Ring, Jahr für Jahr. Das ist nicht gefährlich – solange die Umwelt ruhig bleibt.

Die Umwelt bleibt aber nicht ruhig

Die Herausforderungen sind heute nicht nur zahlreicher, sondern jünger: Migration findet in Echtzeit statt, technologische Sprünge passieren in stets kürzeren Zeitabständen, Kriegs- und Krisendynamiken werden entgrenzt, Demografie und Sozialsysteme verschieben sich schneller als ihre Gesetze, Arbeitsmärkte ändern sich, bevor Ausschüsse zu Ende getagt haben werden, Informationen rotieren schneller, als Redaktionen reagieren, kurz: Das System muss Probleme bearbeiten, die jünger sind als seine Werkzeuge.

Und während die Probleme jünger werden, wird das System älter, dicker, träger – und zugleich gefordert wie nie.

Die Überforderung als mechanisches Resultat

Überforderung entsteht nicht, weil Menschen inkompetent wären oder Politiker schlecht oder Medien böse.

Sie entsteht, weil ein altes, schweres, selbstkomplexes System auf eine Welt trifft, die schneller ist als seine Verfahren, flüchtiger als seine Kategorien, unberechenbarer als seine Routine, vernetzter als seine Ressorts, polarisierter als seine Kommunikationswege, algorithmischer als seine Gesetzgebungstechnik.

Die Folge ist eine Art systemische Lähmung: Nicht Stillstand – sondern Drehen im Leerlauf; das System arbeitet dauernd, aber es bewegt sich kaum, es reagiert ständig, aber selten punktgenau, es reformiert sich fortwährend, aber ohne spürbare Entlastung.

Und je mehr es arbeitet, desto erschöpfter wirkt es. Je mehr es sich anstrengt, desto weniger scheint anzukommen.

Der Bruch zwischen Mitte und Rändern

Eine zusätzliche Spannung entsteht durch die Wahrnehmung: Die Mitte spürt die Überlast. Die Ränder nutzen sie.

Rechts und links liefern einfache Diagnosen, klare Schuldige, populäre Emotionen.

Die Mitte liefert Komplexität und wird dafür mit Müdigkeit bestraft. Die Folge ist, dass die Ränder wachsen, obwohl die Mehrheit weiß, dass dort keine Lösungen liegen.

Man könnte meinen, stabile Mehrheiten reichten aus, um ein Gemeinwesen beweglich zu halten. Doch sobald ein System nicht mehr schnell genug auf seine eigene Komplexität reagieren kann, kippt seine Energie in etwas anderes: Reibung.

Reibung ist kein politisches Stilmittel, sondern das Notverhalten eines überlasteten Systems. Sie entsteht, wenn Entscheidungen ausbleiben und sich Konflikte nicht mehr in Richtung, sondern seitwärts entladen – als Koalitionsgezänk, als Ressortegoismen, als permanente Erregungsschleifen, als mediales Hochkochen, als Empörungskultur von allen Seiten. Reibung ersetzt Entscheidungen, löst aber keine Probleme. Doch wenn ein System nicht mehr gestaltend reagieren kann, bleibt als Energieform nur noch Reibung – ein schlechter Ersatz, aber der einzige, den ein überfordertes System kennt.

Und genau darin liegt das Dilemma unserer Zeit: Denn mit jeder zusätzlichen Schicht an Komplexität steigt die systemische Temperatur, so dass immer mehr Energie im Reiben verloren geht anstatt im Gestalten. Ein Staat, der eigentlich klären müsste, verbraucht sich im Knirschen seiner eigenen Mechanik.

Was bleibt

Das System Deutschland ist nicht am Ende, die Rechtsordnung ist nicht am Ende, die Gesellschaft ist nicht am Ende.

Aber es sind Zustände der Überdehnung klar erkennbar. Das System ist zu alt für die Frequenz seiner eigenen Herausforderungen, zu komplex für die Geschwindigkeit, die es bräuchte, zu widersprüchlich verschaltet, um seine Lasten gleichmäßig zu verteilen.

Nichts davon ist Katastrophe, denn Systeme altern, Systeme verhärten, Systeme erschöpfen sich an ihrer eigenen Größe.

Wer das begreift, versteht, warum sich alles so anfühlt, wie es sich anfühlt. Und sieht Raum für Lösungen. Das System benötigt wieder Bewegung statt Reibung.