Wenn die Gesellschaft schneller denkt als die Parteien

Während das System stoisch und in all seiner Langsamkeit seine Operationen durchführt, Kommunikation an Kommunikation reiht, Anschluss sucht und Reibung findet, verschiebt sich die Umwelt immer schneller; in Wahrheit findet eine tektonische Verschiebung innerhalb der Mitte statt, weg von der volkshaften Integrationslogik der Nachkriegsparteien hin zu funktionalen, milieubasierten Liberalismen, die sich, wenn überhaupt noch defragmentiert genug, isolatorisch über Lebensstile und Wertemuster definieren, nicht mehr jedoch über Klassen oder Kirchen.

Das Ende der alten Volksparteienlogik

SPD sowie CDU/CSU entstammen einer Zeit, in der Gesellschaft sich noch sozialstrukturell gliederte: Arbeiter, Angestellte, Unternehmer; Katholiken, Protestanten, Säkularisierte. Diese Lager sind soziologisch erodiert. Heute sind hybride Erwerbsbiografien, kulturell fragmentierte Lebensstile, Patchworkfamilien und transnationale Loyalitäten eher Regel als Ausnahme. 

Der Wähler von heute ist nicht mehr Klasse, sondern Cluster. Und diese Cluster zerfallen so schnell, dass keine Partei sie dauerhaft halten kann.

Für Volksparteien, die alle repräsentieren wollen, wird es daher stets schwerer, „alle“ auch zu finden. Hinzu kommt: Die SPD hat ihren sozialstaatlichen Alleinstellungsanspruch verloren; sie konkurriert mit Grünen und Linken um dasselbe urbane Milieu. Die CDU hingegen lebt momentan nur vom Erinnerungskapital an Stabilität. Sie weiß scheint selbst noch nicht zu bemerken, dass ihre Milieubasis – kirchlich, bürgerlich, kleinunternehmerisch – nicht nachwächst.

Wenn diese beiden Pfeiler der Nachkriegsdemokratie nicht lernen, mit fragmentierter Repräsentation umzugehen,

werden sie das Schicksal anderer europäischer Volksparteien wie der niederländischen CDA oder der französischen Republikaner erleiden, nämlich Existenz ohne Relevanz.

Fragmentierung als Spiegel gesellschaftlicher Individualisierung

SPD oder CDU agieren, noch immer, muss man leider hinzufügen, wie Behörden mit Parteibuch. Volksparteien haben die Trägheit großer Organisationen: Sie wurden errichtet, um Verlässlichkeit zu verkörpern, nicht Beweglichkeit.

Doch politische Anpassung heute verlangt jedoch Iterationsfähigkeit, fast wie in der Tech-Welt. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie: Je vernetzter, komplexer, systemischer alles wird, desto mehr bräuchte man integrierende politische Erzählungen, doch gerade diese sind institutionell verschwunden.

Darum wirkt Politik heute oft so ziellos, reaktiv, kurzatmig: Sie verwaltet Fragmentierung, statt sie zu gestalten. Beim Wähler kommt jeder Versuch, mag er zugegebenermaßen auch hilflos erscheinen, Komplexität zu reduzieren als das an, was er de facto ist: Reibung, verlorene Energie letztlich; schlimmer noch: Jede Entscheidung nach langem Streit und in der Hoffnung, Komplexität zu reduzieren, schafft lediglich neue Erwartungsenttschungen, die das System wieder operieren muss.

Das Unbehagen an der Streitsucht

Viele Bürger empfinden heute nicht primär Unzufriedenheit mit Inhalten,

sondern Erschöpfung vom politischen Dauerstreit und das Verlangen nach Rationalität. Die Sehnsucht lautet: „Könnt ihr bitte einfach wieder Probleme lösen, statt euch zu inszenieren?“

Das ist kein ideologisches Bedürfnis, sondern ein Zivilisationsbedürfnis nach Politik, die nicht von Gegnerschaft lebt, sondern von Variation. Unter der Oberfläche des politischen Chaos ist der wachsende Wunsch nach Rehabilitierung der Vernunft erkennbar: Bei technokratisch denkenden Grünen, liberalen Teilen der CDU und Teilen der pragmatischen SPD-Kommunalpolitiker.

Überparteilich betrachtet mögen dies Keimzellen derselben Haltung sein: Nicht mehr Lagerpolitik, sondern Lösungsorientierung, transparente Prozesse, faktenbasiertes Entscheiden, iterative Politik, die sich wie Wissenschaft verhält, nicht wie Religion. Woran es fehlt, ist der organisatorische Rahmen, bestehende Energie zu bündeln. 

Deutschland denkt noch in Parteiform, während sich die Gesellschaft längst in Themenclustern organisiert. Während die alte Mitte das Seil zwischen links und rechts war, ist die neue Mitte ist das Feld darüber – ein eigener Raum,

in dem Vernunft, Effizienz, Ethik und Fortschritt wieder zusammenfinden können. Nicht versöhnen, sondern funktionieren, eine neue Form liberaler Mitte, die nicht den Streit meidet, sondern ihn verwandelt: Vom Machtkampf zur Lösungsarbeit.

Damit das funktioniert, braucht es Menschen und Strukturen, die auf Resonanz programmiert sind: Führungspersönlichkeiten, die zuhören können, Institutionen, die transparent und lernfähig sind, und Medienformate, die Verständigung inszenieren statt Konflikt. Nur dann entsteht eine post-populistische Öffentlichkeit,  die wieder Lust hat, sich als Bürger zu verstehen, nicht als Gegner in einem endlosen Kommentar-Thread.

Der Liberalismus steht an einem Scheideweg

Der klassische Liberalismus, wie er Parteien wie die FDP lange auszeichnete, hatte zwei große Versprechen: Eigenverantwortung statt Staatspaternalismus, Freiheit durch Marktwirtschaft.

Diese Versprechen greifen heute nicht mehr so einfach, weil sich die Realität verändert hat: Freiheit braucht heute digitale Souveränität, ökologische Stabilität und Bildungskompetenz – nicht bloß Deregulierung.

Der Liberalismus muss also vom Markt- zum Strukturprinzip werden: Er darf nicht mehr fragen: Wie befreien wir den Markt vom Staat? Sondern: Wie sichern wir Freiheit in einer komplexen, vernetzten Gesellschaft? Das wäre der Kern eines „neuen Liberalismus“, den die FDP theoretisch besetzen würde, wenn sie intellektuell und personell dazu fähig wäre.

Warum CDU/CSU, SPD und FDP es nicht schaffen werden

Das Personal der FDP ist nicht das Problem, es ist das Symptom. Die FDP ist in ihrem Selbstverständnis eine nostalgische Avantgarde; sie glaubt noch immer, Avantgarde zu sein, aber auf der Grundlage vergangener Ideen. Ihre Sprache ist die der 1980er: Bürokratieabbau, Mittelstand, Innovation, Eigenverantwortung. Das klingt richtig, ist aber nicht anschlussfähig an die Probleme der Zukunft, die bereits Gegenwartsprobleme sind: KI-Ethik, Generationenkonflikte, fragmentierte Gesellschaften, planetare Grenzen und globale Irritationen, soziale Kohäsion, psychische Gesundheit, Vertrauen in Systeme.

Ein „radikale Mitte“, wenn sie in diesem Zusammenhang und wie von Christian Dürr, Bundesvorsitzender der FDP, jüngst immer wieder verzweifelt in die Luft zu skizzieren versucht, Substanz hätte, müsste bedeuten: Radikal im Sinne von: an die Wurzeln der Freiheit zurückgehen; nicht „mehr Markt“, sondern „mehr Mensch“. Doch dafür fehlt der FDP, wie auch vielen anderen Parteien, das narrative Sensorium.  Denn genau an der Figur Christian Dürr und seiner hilflosen Beschwörung einer „radikalen Mitte“ lässt sich das Dilemma der etablierten Parteien ablesen: Sie spüren, dass sich etwas Neues formen müsste, aber sie wissen nicht, aus welchem Stoff. 

Nur, wenn sie, FDP, CDU/CSU und SPD gleichermaßen, ihre Organisationslogik sprengen, werden sie es schaffen können. Weg vom Selbsterhalt, hin zur Innovation. Um sich zu wandeln, müssten sie: Interne Machtstrukturen dezentralisieren, diskursive Räume öffnen (Thinktanks, offene Plattformen, Bürgerdialoge) und Narrative zulassen, die nicht sofort kontrollierbar sind. Das ist für sie fast undenkbar. 

Ein Vakuum bleibt nicht unbesetzt

Darum ist es wahrscheinlicher, dass der Wandel von außen kommt, nicht als Revolution, sondern als Evolution.

Die etablierten Parteien, dies sind alle, die derselben Strukturlogik unterliegen, durch Reduktionsversuche also im eigenen System nichts anderes hervorbringen können als Erwartungsenttäuschungen und damit neue Kommunikation und neue Operationen, die das System seinerseits braucht, um zu existieren, werden Teile ihrer Struktur retten, indem sie neue Themen absorbieren (Digitalität, KI, Klimawirtschaft, geopolitische Eigenständigkeit Europas). Das wird sie eine Weile über Wasser halten, aber sie bleiben reaktiv, nicht schöpferisch.

Neue Kräfte der Mitte können hingegen entstehen aus einer Haltungslogik als funktionales Gegenmodell zur Polarisierung. Das können Bewegungen sein, Thinktanks, mediale Netzwerke, zivilgesellschaftliche Allianzen, die irgendwann, wenn sie genügend Gravitation haben, in politische Form übergehen.

Diese neuen Kräfte weisen auf eine intelligente Fortschreibung ordoliberaler Verantwortung hin und verbinden sie mit progressiv-liberaler Offenheit; sie siedeln sich damit genau in der Zone an, in der Rationalität und Empathie einander nicht mehr ausschließen; weder marktradikal noch sozialromantisch, sondern sozial-rational, im besten Sinne des Wortes: lösungsorientiert, aber empathisch; regelbasiert, aber offen. Diese beiden Stränge ergänzen oder neutralisieren einander, und gemeinsam bilden sie eine funktionale Mitte – eine neue Form von Liberalismus, die technokratisch und wertebasiert zugleich ist.

Vielleicht ist das der nächste Schritt der Geschichte: Dass sich nicht mehr Volksparteien, sondern Resonanzräume bilden – Bewegungen, Netzwerke, Allianzen, die vielleicht nur zeitlich befristet Identität erzeugen, und dann wieder zerfallen, sobald das Thema, das sie gebündelt hat, erschöpft ist, vielleicht aber auch in Parteiengründungen münden. Politik als Prozess, nicht zwangsläufig als Partei. Das wäre der postmoderne Endpunkt der Volksparteienära und zugleich möglicher Beginn einer neuen, beweglicheren Form demokratischer Selbstorganisation. Das könnte wirklich dazu beitragen, Komplexität zu reduzieren.