Es beginnt mit einem kurzen Blick in die Bild-Zeitung: „Will Merz nicht in eine Minderheitsregierung oder mit der AfD paktieren, ist er „alternativlos“ gefesselt an die SPD. Die weiß das. Die nutzt das, macht gnadenlos auf dicke Hose. Dabei müffelt sie unterm roten Mantel schon leicht nach Tod.“
Das ist überspitzt, brutal formuliert, aber nicht falsch: Die SPD wirkt politisch zwar erschöpft. Wenn ein politisches System -hier: SPD- jedoch spürt, dass es absteigt, dann zeigt es häufig dieses Muster: Maximale Selbstüberhöhung, moralische Überkompensation, Verlust an Realitätssinn, künstliche Härte in Verhandlungen, „Wir sind unverzichtbar“-Rhetorik, Besitzstandswahrung statt Gestaltung.
Es ist nicht Macht, was die SPD spürt; es ist vielmehr die Angst vor Irrelevanz, die sich wie Macht anfühlt. Systemisch nennt man das: Symbolischer Überschuss bei realem Substanzverlust.
Jenseits davon ist es jedoch nicht die SPD, die stark ist – es ist Merz, der keine Koalitionsgeometrie mehr findet, denn er ist im deutschen Strukturproblem gefangen. Deutschland produziert derzeit keine klaren Mehrheiten mehr. Die CDU gewinnt zwar, mehr schlecht denn recht, jedoch immerhin, Wahlen und verliert gleichzeitig jede Handlungsfreiheit, weil ohne die SPD selten Regierungen möglich sind, aber mit der SPD keine erkennbare CDU-Strategie realisierbar ist.
Das ist die perfekte politische Entropie: Niemand hat Kraft, niemand will Verantwortung, niemand kann aussteigen. Alle müssen weitermachen.
Diese Lage führt zu einem zweiten Phänomen, das wesentlich tiefer reicht als Parteitaktik: Fraktionen funktionieren nicht mehr wie Fraktionen.
Man sieht es an Jens Spahn, der als Fraktionsvorsitzender der CDU/CSU bislang alles andere als eine stabile Figur gibt. Aber Spahn ist nicht das Problem, er ist vielmehr das Symptom. Denn die Abgeordneten, die er führen soll, sind selbst nicht mehr eingebettet in verlässliche Fraktionsmilieus, sondern in individuelle mediale Ökosysteme. Jeder Post, jeder Kommentar, jede Mikroaufregung kann einzelne Parlamentarier binnen Stunden in einen eigenen Resonanzraum katapultieren.
Wir haben es zu tun mit einer Erosion des inneren Ordnungsprinzips, das die parlamentarische, durch Parteien vermittelte Form überhaupt erst tragfähig gemacht hat: Fraktionsdisziplin bricht auf, Einzelabgeordnete werden unberechenbarer, Führungspersonal wirkt schwach oder fragmentiert, Parteien verlieren ihre semantische Mitte, Koalitionsverträge werden entwertet, und das alles mit der Folge, dass Öffentlichkeit noch schneller driftet als die Parteien modulieren können. Eine ungute Spirale.
Jedoch ist etwa Fraktionsdisziplin kein moralisches oder organisatorisches Problem mehr, sondern ein strukturelles: Abgeordnete müssen in Social-Media-Ökonomien bestehen, die individuelle Profilierung belohnen und kollektive Loyalität bestrafen. Sie werden zu unsicheren Kantonisten, nicht weil sie unzuverlässig wären, sondern weil das System sie permanent zwingt, eigene Linien sichtbar zu machen.
Wenn politische Öffentlichkeit fragmentiert, Parteiidentität erodiert, Karrierepfade in der jeweiligen Partei unsicherer sind, Social-Media-Demokratie Aufmerksamkeit fokussiert und Polarisierung belohnt, dann spielt jeder Abgeordnete heute eine eigene permanente Mini-Kampagne. Das ist funktional das Gegenteil von Fraktionsdisziplin.
Und so entsteht die Ironie der Gegenwart: Koalitionen werden fragil, weil ihre Abgeordneten fragmentiert sind. Nicht die Parteien sind instabil, vielmehr ist es die parlamentarische Entscheidungslogik.
Das erklärt, warum jede Koalitionsform – Ampel, GroKo, Deutschland-Koalition, sogar Minderheitsmodelle – sofort ausfranst. Sie setzen voraus, dass Fraktionen intern stabil sind. Doch diese Stabilität gibt es nicht mehr. Die Umwelt des politischen Systems ist schneller geworden, vielstimmiger, aggressiver im Takt, und das System selbst ist zu groß und zu schwerfällig, um dem Tempo zu folgen.
Der Ruf nach „Führung“ oder „klaren Ansagen“ ist deshalb kein Ruf nach Autoritarismus, sondern ein Ausdruck kollektiver Überforderung. Nicht, weil die Menschen sich autoritäre Politik wünschen, sondern weil sie in einer strukturell überlasteten Demokratie leben, entsteht das Bedürfnis, das endlich jemand durchregiert.
Das Problem ist nicht, dass Politiker unfähig wären. Das Problem ist, dass das System mehr Erwartungen verarbeiten muss, als es verarbeiten kann. Deutschland leidet nicht an schlechten Politikern, sondern an einem politischen Apparat, der für eine Welt gebaut wurde, die es so nicht mehr gibt.
In dieser Welt werden Abgeordnete zu Einzelkommunikatoren, Fraktionen zu losen Netzwerken, Koalitionen zu Überforderungszonen und Parteiführungen zu Versuchslaboren, die den Takt nicht mehr setzen, sondern nur noch hinterherlaufen. Solange Strukturreform ausbleiben, werden wir ein System sehen, in dem Koalitionen bröckeln, Fraktionen taumeln und jede Führungskraft – Merz, Spahn, Klingbeil oder wer auch immer – aussieht wie ein schwacher Kapitän, obwohl eigentlich das Schiff selbst falsch konstruiert ist.